Samstag, 9. Juni 2012

Lettland: Austerians‘ Lieblingskind


Nachdem Irland sich weigert, mitzuspielen, ist Lettland zur Zeit das Lieblingskind der Verfechter der Austeritätspolitik. Das überschwängliche Lob von Jörg Asmussen, dem Mitglied des EZB-Direktoriums ist symptomatisch.

Asmussens Lobhudelei beruht darauf, dass die harschen Sparmassnahmen und die internal devaluation (d.h. Lohnkürzungen) angeblich funktionieren. Man muss jedoch darauf achten, dass Asmussens Nachweis von dem ziemlich raschen Wirtschaftswachstum in einem Jahr nach einem unglaublichen Absturz der Wirtschaft herrührt. Es ist daher wichtig, hervorzuheben, dass Asmussens Aussage fast nichts beweist. Es handelt sich dabei um eine nur partielle Erholung der Wirtschaft aus einer schweren Rezession.

Asmussen scheint ausserdem, genau so wie IWF-Chefin Christine Lagarde, abschätzig gegenüber der Massenarbeitslosigkeit. Wenn man auch die jenigen, die aus dem Erwerbsleben unfreiwillig ausgeschieden sind, zählt, beläuft sich die Arbeitslosenquote in Lettland auf 23,6% (in der Spitze 30%), wie Mark Weisbrot in einem lesenswerten Artikel in The Guardian bemerkt. Im Übrigen haben 10% der Erwerbstätigen inzwischen das Land verlassen, um nie wieder zurückzukommen.

Eine Frage, die in diesem Zusammenhang nun öfters aufgeworfen wird, ist aber, ob man sich um die wirtschaftliche Entwicklung in den baltischen Staaten nicht kümmern soll, da es sich dabei um „zu kleine Volkswirtschaften“ handelt, wo es sich nicht lohnt, dem Geschehen eine grosse Bedeutung beizumessen? Nein, nein, sicher nicht.

Jede Volkswirtschaft, auch eine kleine, stellt potenziell ein „natürliches Experiment“ dar, welches uns darüber unterrichtet, wie die Wirtschaft im Allgemeinen funktioniert, wie Paul Krugman in seinem Blog ausdrückt.

Dani Rodrik, der kürzlich Lettland besucht hat, befasst sich in seinem Blog mit dem Thema, wie das Land auf die Wirtschaftskrise reagiert hat.


Lettland BIP, Graph: Prof. Dani Rodrik

Lettland hat von Anfang an externe Beratung zurückgewiesen und die eigene Währung nicht abgewertet, trotz eines riesigen Leistungsbilanzdefizits von 20% des BIP im Jahr 2007. Die Landeswährung ist an den Euro gekoppelt, im Vorgriff eines EU-Beitritts. Die Regierung weigert sich daher, etwas zu unternehmen, was dieses Ziel untergraben könnte. Der IWF, der auf Abwertung bestanden hat, wurde nach Hause geschickt.

Am Ende hat das Lettland eine radikale fiskalpolitische Kontraktion umgesetzt, welche das Land wieder in einen Überschuss geführt hat, schildert der an der Harvard University lehrende Wirtschaftsprofessor. Das BIP ist in einem Jahr um 20% geschrumpft. Im Jahre 2011 schien die Wirtschaft, das Schlimmste hinter sich gebracht zu haben: die Wirtschaftsleistung ist um 5,5% gestiegen. Auch wenn die Erholung rasch erfolgt zu haben, scheint, ist das Land laut Rodrik noch weit davon entfernt, das Produktionsniveau vor der Krise zu erreichen, wie in der Abbildung deutlich zu sehen ist.

Island hingegen, ein Land, das von der Finanzkrise schwer getroffen war, hat Kapitalverkehrskontrollen verhängt, seine Währung abgewertet und eine scharfe wirtschaftliche Kontraktion wie Lettland vermieden, legt Rodrik dar.

Auch wenn Lettlands aussenwirtschaftliches Ungleichgewicht inzwischen abgebaut wurde, ist es laut Rodrik heute nicht klar, ob es eine beträchtliche Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit gegeben hat oder nicht. Die viel gerühmte interne Abwertung war klein. Lohnkürzungen fanden zumeist im öffentlichen Sektor statt, wo sie die Wettbewerbsfähigkeit im Exportgeschäft nicht wirklich fördern, erklärt Rodrik weiter.

Die Löhne in der Privatwirtschaft waren erstaunlich widerstandsfähig. Die Lohnstückkosten sind, auf dem realen Wechselkurs basierend, nur mässig gefallen. Folglich ist laut Rodrik überhaupt nicht klar, ob Lettland eine ausreichende Wettbewerbsfähigkeit  wiedererlangt hat, um ein nachhaltiges Wachstum ohne aussenwirtschaftliche Defizite aufrechtzuerhalten.

Die wichtigste Lehre, die Rodrik aus dem Beispiel Lettland zieht, ist die Notwendigkeit, einfache Verallgemeinerungen zu vermeiden, welche die Besonderheiten des betroffenenen Landes nicht berücksichtigen. Die Missionare der Sparpolitik liegen falsch, wenn sie behaupten, dass Lettlands „Erfolgsgeschichte“ die Keynesianer Lügen bestrafe. Es ist zu früh, Lettlands Erfahrung als Erfolg zu bezeichnen. Der auffälligste Aspekt der lettischen Erfahrung ist die relative Abwesenheit von politischen Konflikten und sozialen Unruhen während der katastrophalen Wirtschaftskrise.

Fazit: Lettland hat fast ein Viertel seines Volkseinkommens auf dem Altar der Sparpolitik geopfert. Die Menschen verlassen das Land. Die internal devaluation funktioniert nicht.

Bemerkenswert ist, dass die unerwartete Inflation der Regierung entgegenkam, um eine etwas expansivere Geldpolitik zu verfolgen als ursprünglich geplant. Das Wachstum der öffentlichen Verschuldung wurde reduziert. Aber Lettland hat, wie Mark Weisbrot darauf aufmerksam macht, auch eine Menge Geld von den europäischen Behörden bekommen. Die EU hat damit sicherstellen wollen, dass die Währung nicht abgewertet wird, um die schwedischen Banken vor grossen Verlusten zu schützen.

Es ist bedauerlich, dass die EU den Verlust an Produktion und Beschäftigung ignoriert und das sinnlose Leiden von Menschen im Sog der Austeritätspolitik nicht beachtet.

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