Dienstag, 15. Januar 2013

Misunderstanding Financial Crises


Buchbesprechung

Gary B. Gorton: Misunderstanding Financial Crises. Why we don’t see them coming. Oxford University Press, Oxford, New York, 2012:


Warum haben Ökonomen die Finanzkrise nicht kommen sehen? Was sind Finanzkrisen? Warum geschehen sie? Und warum hat z.B. in den USA zwischen 1934 und 2007 keine Finanzkrise stattgefunden? Es gibt noch mehr ähnliche Fragen, die auch mehr als vier Jahre nach dem Ausbruch der Krise nicht an Aktualität verloren haben. Die reale Frage lautet allerdings, was die Ursachen des Missverständnises der Finanzkrisen sind. Es hat mit der Erkenntnistheorie der Wirtschaftswissenschaften zu tun, bemerkt Gary Gorton in seinem neuen Buch.

Der an der Yale University lehrende Wirtschaftsprofessor legt in diesem Zusammenhang grossen Wert auf das Verb „sehen“ in der anfangs gestellten Frage. Was haben Ökonomen gesehen, wenn sie vor dem Finanzsektor gestanden sind? Es kommt auf den Blickwinkel an. Sie haben die Möglichkeit einer systemischen Krise nicht gesehen. Aber sie haben auch nicht gesehen, wie sich die Kapitalmärkte und das Banking System in den vergangenen 30 Jahren entwickelt haben. Ja, es hat mit intellektuellem Versagen zu tun. Die nachfolgende entscheidende Frage ist in diesem Kontext, wie die Wirtschaftswissenschaft Erkenntnisse produziert.

Ökonomen haben geglaubt, dass das Problem der Krisen gelöst worden sei. Und sie dachten, dass Krisen in Marktwirtschaften einfach nicht eingewurzelt sind. Weder die erste noch die zweite Ansicht trifft im Angesicht der Beweise, die die anhaltende Finanzkrise offen legt, zu. Es gibt also ein grundsätzliches Missverständnis im Hinblick auf die Krisen, hält Gorton fest. Es sind aber nicht nur Ökonomen, sondern auch die Rating-Agenturen und Aufsichtsbehörden, die die Krise nicht haben kommen sehen.

Gorton stellt vor allem die „Quite Period“ (d.h. die sog. „Great Moderation“) in den Mittelpunkt seiner gesamten Analyse hin. Es handelt sich dabei um die Zeitperiode von 1934 bis 2007, wo in den USA dank einer angemessenen Regulierung der Finanzmärkte keine Finanzkrise stattgefunden hat. Der starke und dramatische Abbruch der „Quite Period“ legt laut Gorton durch die gegenwärtige Finanzkrise und die Fakten der sich historisch und international wiederholenden Finanzkrisen nahe, dass es eine tiefere als eine episoden-spezifische und multi-kausale Erklärung geben muss

Die Ursache von Finanzkrisen ist laut Gorton die Anfälligkeit von Transaktionsmedien, d.h. der privat ausgegebenen Schuldverschreibungen der Finanzinstitute, wie z.B. der privaten Bank-Schuldtitel (private bank notes, die in den USA vor dem Civil War existierten), Sichteinlagen (checking accounts), Commercial Papers (kurzfristige, unbesicherte Schuldtitel erster Adressen), Wertpapierpensionsgeschäfte (repo). Kurzum: Die Formen des Geldes, die i.d.R. für kurzfristige Verbindlichkeiten von Finanzintermediären eingesetzt werden, welche jedoch vorwiegend ausserhalb des regulierten Bankensystems, nämlich im Shadow Banking System bereitgestellt wurden. 

Diese Art von Geld existiert für einen bestimmten Grund: Nämlich, um Transaktionen durchzuführen. Aber die neuen Formen des Geldes sind verwundbar, weil die Möglichkeit besteht, dass die Einleger (Gläubiger) stattdessen plötzlich (im Falle eines zunehmenden Missvertrauens in Bezug auf die Sicherheiten, die dahinter stehen) nach Bargeld (cash) verlangen, d.h. das Geld zurückziehen. Gortons Ansicht nach herrscht aber in der Wirtschaft ein Missverständnis im Zusammenhang mit dem Geld-Abzug oder Aufkündigungen von privaten Schuldverschreibungen, was wiederum einen Teil der gesamten Problematik darstellt. Aus diesem Grund sind Paniks an sich keine unvernüftige Ereignisse.

Eine Finanzkrise ist also in der einfachen Form ein Ausstieg aus einer Bank-Schuldverschreibung. Ein solcher Vorgang kann im Finanzsystem einen massiven Schuldenabbau (deleveraging) auslösen, was im Grunde genommen den Anfang der Debt Deflation markiert. Es ist nicht die Aktiv-Seite der Banken, die problematisch wirken, sondern die Passiv-Seite der Bilanz. Die Finanzintermediäre können möglicherweise solche Schuldverschreibungen nicht einlösen, wenn die Papiere plötzlich zurückgezogen oder nicht erneuert werden. Wenn das ganze Banking System vertragliche Anforderungen nicht akzeptieren (d.h. einlösen) kann, dann entsteht ein systemisches Problem. Der Ausgangspunkt ist m.a.W. „bank debt for cash“, und zwar en masse.

Es ist bemerkenswert, dass Gorton die (kurzfristigen) Schuldtitel der Banken als Output der Banken beschreibt. Solche Schuldverschreibungen sind durch (private) Sicherheiten gedeckt, z.B. durch einen Vermögenswert der Bank oder eine spezielle Anleihe. Es ist aber eine Tatsache, dass es für den privaten Sektor nicht möglich ist, risikolose Sicherheiten (collateral) herzustellen. Weil die Schuldverschreibungen nicht risikofrei sind, sind sie verwundbar, wenn sie nicht erneuert (roll-over) werden, weil zum Beispiel Einleger (Bankkunden) Probleme in Bezug auf die Sicherheiten „entdecken“. Das heisst, dass die Rückzahlung der Bankschuldverschreibungen von der Zahlungsfähigkeit der betreffenden Bank abhängt. Eine Finanzkrise ist daher ein Ausstieg aus einer Bank-Schuldverschreibung, was einen Sturm auf eine Bank (bank run) auslösen kann. Und das ist ein der Marktwirtschaft innewohnendes Problem.

Die Finanzkrise von 2008 ist insofern verwirrend, als es ihr nicht ein Bank Run via Menschen, sondern via Investmentbanken vorausging. Das ist ein gewichtiger Unterschied zu Finanzkrisen von früher, nämlich der Ära (1914) vor der Gründung der Fed. Der Privatsektor versucht zwar durch Finanzinnovationen, Sicherheiten für das private Geld zu produzieren, um das Risiko von Paniks zu vermeiden. Aber nur der Staat kann vollkommen risikolose Sicherheiten (collateral) bereitstellen. Damit die Schuldtitel von Banken als Geld verwendet werden können, müssen sie liquid sein und zu pari gehandelt werden. Eine Finanzkrise, die i.d.R. mit Schuldverschreibungen der Banken zu tun hat, kommt dann zustande, wenn Marktteilnehmer im Hinblick auf den Wert der Bank-Schuldtitel misstrauisch werden. Es kann also ohne bank debt keine Finanzkrise geben. Die Finanzkrisen sind deshalb im Kern immer diegleichen: eine plötzlich erfolgende grosse Nachfrage nach Bargeld.

Die (systemische) Finanzkrise von 2008 war ein Sturm (run) auf Repo-Geschäfte, Prime Broker Balances und Asset-Backed Commercial Papers (ABCP). Das Geschäft mit Die Verbriefung (securitization) ist infolgedessen dramatisch geschrumpft und damit fast in Bedeutungslosigkeit verschwunden. Die Krise hat dadurch ein wesentliches Missverständnis aufgedeckt, dass Aufsichtsbehörden und Ökonomen nicht wussten, welche Unternehmen Banken waren und welche Schuldtitel als „Geld“ gelten. Sie haben nicht wahrgenommen, dass Repo (repurchase aggrements) und ABCP auch als Geld „gehandelt“ werden. Das sind die zwei wichtigsten Instrumente des Geldmarktes.

Was auch nicht vergessen werden darf, ist, dass die Finanzkrisen öfters Credit Booms vorausgehen. Vor diesem Hintergrund erläutert Gorton alle nennenswerten Finanzkrisen im historischen Vergleich und gibt einen sehr detaillierten Überblick über historisch wichtige Wendepunkte („Quiet Period“, „Livingston Doctrine“, „US Free Banking Era“ von 1837-63, „National Bank Acts“ usw.)

Die Existenz der Fed hat, wie die Geschichte des Bankwesens lehrt, das Verhalten der Haushalte verändert. Es gab im Juni 1920 oder im Oktober 1929 keinen Bank Run. Die Stürme auf die Banken kamen erst mit der Great Depression. Was der Autor immer wieder hervorhebt, ist der Mangel an angemessenen Daten, um Finanzkrisen zu verstehen. Sein Vorschlag lautet daher die Einrichtung einer neuen Informationsinfrastruktur.

Das Dodd-Frank Gesetz hat als Teil des US-Schatzamtes ein Office of Financial Research (OFR) aufgebaut. Das OFR verfügt über eine spürbare Macht: es hat die Befugnis für Zwangsvorladungen und es kann Unternehmen zwingen, Informationen zu produzieren, wie z.B. über Trading Positionen, Transaktionen, Vergütung (Bonus) von Mitarbeitern. Was aber bislang unangetastet bleibt, ist das Paradox zwischen Wall Street (financial sector) und Main Street (real economy). Die Tatsache, dass in der modernen Ära des Central Banking die Liquidation des Banking Systems vermieden wird, wird vom Autor als „Livingston Doctrine“ (gestützt auf einen Gerichtsentscheid von damals) bezeichnet. 

Die Rettung des Bankensystems bedeutet die Rettung der Bankers. Rettungsaktionen (bailouts) sind Zahlungen zu Gunsten von Banker und zu Lasten von Steuerzahler, was der amerikanische Finanzminister Tim Geithner das „Paradox von Finanzkrisen“ schildert. Austan Goolsbee, der frühere Wirtschaftsberater von Präsident Obama sagte einst, dass es fast so sei, als ob diese Männer den „Nobelpreis für Böses“ bekommen müssten. Die Antwort auf eine Krise ist politisch. Die Fähigkeit ohne politische Einflussnahme zu agieren ist gering. Daher bedeutet die Rettung des Bankensystems auch die Rettung der Banken. Es kann ein Finanzsystem gestaltet werden, welches Finanzkrisen vermeidet. Aber es gibt ein Trade-off Probleme. Es entstehen Kosten auf der anderen Seite, hält Gorton als Fazit fest.

Die Geschichte des Umgangs mit Finanzkrisen ist schon immer eine der Vermeidung der Liquidation des Bankensystems gewesen, ob durch die Zulassung der Aussetzung der Konvertibilität oder durch die Erklärung von Bank Holidays. Solvenz von Banken ist nicht ein klar definierter Begriff, erklärt Gorton.

Jamie Dimon, CEO von JP Morgan hat vor dem Untersuchungsausschuss (FCIC) 2011 auf die Frage, ob JP Morgan solvent ist, gesagt: „Die Antwort ist, ich weiss es nicht“. Ob eine Bank insolvent (zahlungsunfähig) ist, wird immer nach Gutdünken der Aufsichtsbehörden  festgelegt.

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