Donnerstag, 12. März 2015

Wie Austerität Finnland in Depression festhält

Es ist 09.30 Uhr an einem eiskalten Morgen in Helsinki. Hunderte von Menschen stehen Schlange vor einem unscheinbaren Gebäude im Norden der Stadt. Eine alte Frau ganz vorne sagt, dass sie seit zwei-und-ein-halb-Stunden wartet.

Die 2‘600 Menschen, die irgendwann hinein latschen werden, warten nicht auf die neuesten Nokia oder Apple Mobile Phones, sondern auf etwas Elementares: Eier, Brot, Milch, Bananen, Fruchtsäfte und andere Grundnahrungsmittel.

Die Warteschlange ist länger und länger, sagt einer der Arbeiter im Helsinginkatu Food Bank: „Wir haben viele reiche Leute hier in Finnland, aber das ist die andere Seite“.

Der Manager des Zentrums erzählt, dass die Zahl der Menschen, die die Anlage besuchen, sich seit 2012 verdoppelt hat. Die Menschen haben einfach nicht genug zum Leben, weil viele von ihnen keinen Job haben.

Das schildert FT, die britische Wirtschaftszeitung aus London in einem lesenswerten Bericht („Finland’s economy: In search of the sunny side”). Der Artikel bietet u.a. die folgende bemerkenswerte Abbildung.

Die Notlage ist zum Teil auf die Austeritätspolitik der EU zurückzuführen, hiess es im Bericht weiter. Das Land befindet sich in einer Depression. Im Mittelpunkt steht ein Wettbewerbsproblem: Die Lohnkosten sind höher als in jedem anderen europäischen Land. Finnland hat nach Japan die am schnellsten alternden Bevökerung der Welt.


Finnlands Lohnstückkosten im Vergleich, Graph: FT



Wettbewerbsfähigkeit ist ein relatives Konzept. Die Ausgaben des einen sind die Einnahmen des anderen. Der Effekt ist umso grösser, je enger die Länder in einer Währungsunion Handel miteinander treiben. Schade, dass in der Abbildung Deutschlands Lohnstückkosten fehlen. Sonst sieht man, wie Deutschland durch Lohn-Moderation die anderen an die Wand gedrückt hat:



Lohnstückkosten Frankreich versus Deutschland, Graph: Prof. Heiner Flassbeck in: Flassbeck Economics

Seit 2008 sind die Lohnstückkosten in Finnland um 20% gestiegen, genau gleich wie die von Frankreich. Aber sie sind 20% höher als in Deutschland, und rund 15% mehr als in Schweden. Es ist eine enorme Herausforderung, die Wettbewerbsfähigkeit vor diesem Hintergrund um 10 oder 15% zu erhöhen, zumal das Land nicht die eigene Währung hat, und deshalb nicht abwerten kann. 

Die internal devaluation (Anpassung von Kosten und Preisen durch Lohnsenkung) bedeutet andererseits Deflation. Es bedarf Fiscal Stimulus. Aber das neoliberale Wirtschaftspolitik der EU verbietet es. Finnland hat eine relative niedrige Staatsverschuldung (debt-to-GDP) von 60%, d.h. es gibt genügend fiskalischen Spielraum. Auch das Haushaltsdefizit bleibt mit 3,4% (2014) in geordneten Rahmen.

Das reale BIP ist seit dem Höchststand im Jahr 1989 bis zur Talsohle der Rezession im Jahr 1993 um 13% gesunken. Heute liegt es rund 5% unter dem Niveau von 2008. Die Wirtschaft ist 2004 um 0,1% geschrumpft.


Finnlands Wirtschaftswachstum, Graph: Statistic Finland


Warum ist die Entwicklung der Lohnstückkosten in einer Währungsunion entscheidend? Weil die nationale Geldpolitik an die EZB übertragen wird und die Länder in der Währungsunion stattdessen ein gemeinsam festgelegtes Inflationsziel anstreben.

Es geht im Grunde genommen um den Zusammenhang zwischen Löhnen (Zuwachs von Lohnstückkosten) und Preisen (Inflationsrate). Die Löhne müssen sich in einer Währungsunion an der nationalen Produktivitätsentwicklung plus dem gemeinsam festgelegten Inflationsziel orientieren, wie Heiner Flassbeck in seinem Blog ausführlich erläutert.

Fest verankerte Inflationserwartungen verlangen genau diese Anpassungsregel. Lohnstückkosten müssen dem Inflationsziel folgen. Sonst macht das Konzept der Verankerung von Inflationserwartungen, die die Notenbank fordern, keinen Sinn. 

Fazit: Die von Brüssel und Berlin tatkräftig verordnete Austerität hat nicht nur in Griechenland einen Abwärtsstrudel mit verheerenden sozialen und ökonomischen Folgen ausgelöst.

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